Plädoyer für Prim ärarztsystem mit klaren Spielregeln und WENIGER Medizin

Über die Zukunft der hausärztlichen Versorgung wird viel diskutiert. Wie es nicht laufen soll, das wissen wir offenbar alle ziemlich genau, aber was wünschen wir uns stattdessen?
Ich wünsche mir ein Primärarztsystem mit klaren Spielregeln.
Im Gegensatz zu vielen Kollegen möchte ich das Dogma der Freiberuflichkeit in Frage stellen und denke, dass im Angestelltenverhältnis nicht nur angenehmere Arbeitsbedingungen sondern auch eine bessere Patientenversorgung möglich wäre (Voraussetzung: öffentlich-rechtlich-staatlich kontrollierter Träger, gute gewerkschaftliche Vertretung).
Das Problem an der Sache: Wenn man so ein System wirklich konsequent aufbauen würde, käme man mit wesentlich weniger Ärzten aus.
Wir hätten also in Deutschland in den meisten Regionen einen enormen Ärzteüberschuss, insbesondere im ambulant-gebietsärztlichen Bereich und bei der apparativen Diagnostik. Was machen wir also mit all den „überflüssigen“ Kollegen?

Das also wären meine Spielregeln:
1. Träger des Gesundheitswesens ist der Staat bzw. eine öffentlich-rechtliche Gesundheitsinstitution. Es gibt eine „Einheitskrankenkasse“, deren Leistungen jeder Einwohner kostenlos in Anspruch nehmen darf, sofern er sich dauerhaft legal im Land aufhält.
2. Der selbe Träger betreibt nicht nur medizinische Primärversorgungszentren sondern auch alle öffentlichen Krankenhäuser und den Rettungsdienst
3. Jeder Einwohner hat das Recht, sich in einem medizinischen Primärversorgunszentrum seiner Wahl einzuschreiben.
4. Das Primärversorgunszentrum ist für alle Einwohner immer erster Ansprechpartner in Gesundheitsfragen
5. Im Primärversorgungszentrum arbeiten in der Regel mehrere Hausärzte gemeinsam mit ambulantem Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Psychologen, Ergotherapeuten, Hebammen und anderen Gesundheitsdienstleistern Hand in Hand
6. Das Einkommen des Arztes ist direkt proportional zur geleisteten Arbeitszeit. Konkret: es gibt einen festen Arbeitsvertrag mit einer festgelegten Zahl von Arbeitsstunden pro Woche bzw. Monat, Überstunden werden separat vergütet oder in Freizeit abgegolten. Eine starke gewerkschaftliche Vertretung sorgt dafür, dass diese Verträge auch eingehalten werden.
7. Das Primärversorgungszentrum bietet ein klar definiertes Leistungsspektrum an. Der „Katalog“ dieser Leistungen wird national einheitlich durch das Gesundheitsministerium bzw. den Träger der „Einheitskrankenkasse“ festgelegt. Hierbei handelt es sich um Leistungen der medizinischen Grundsicherung: Die Leistungen, die medizinisch Notwendig und sinnvoll sind, nicht unbedingt „alles was machbar ist“.
8. Es gibt einen nationalen Arzneimittelkatalog. Alle in diesem Katalog aufgeführten Substanzen dürfen verschrieben werden. Auf Rezepten werden ausschließlich Wirkstoffe verschrieben. Die Arzneimittelhersteller werden verpflichtet, ihre Medikamente ausschließlich unter dem Wirkstoffnamen zu vermarkten.
9. Das Primärversorgungszentrum ist Montags bis Freitags von 07 bis 19 Uhr (6 bis 20?) geöffnet. In dieser Zeit ist immer mindestens ein Arzt an Bord.
10. Außerhalb dieser Zeiten gibt es einen regional organisierten Notdienst in Zusammenarbeit mit regionalen Krankenhäusern und Rettungsdienst (i.e. eine einheitliche Rufnummer für alle medizinischen Notfälle, eine gemeinsame Telefontriage, ein ambulantes Notdienstzentrum räumlich direkt am Krankenhaus und einen regional organisierten Fahrdienst).
11. Hausärzte können Patienten an Spezialisten überweisen. Spezialisten können vom Patienten nur nach Überweisung aufgesucht werden.
12. Hausärzte haben die Möglichkeit, Patienten ins örtliche Krankenhaus einzuweisen und – sofern sie es wünschen – dort auch als „hausärztliche Belegpatienten“ stationär weiter zu betreuen (z.B. geriatrische Patienten bei denen es um eine vorübergehende AZ-Verschlechterung oder kurzfristige Versorgungsengpässe gibt).
13. Wer einen Hausarzt konsultieren möchte, sollte grundsätzlich einen Termin vereinbaren. Es wird zugesichert, dass ein Patient für Routineangelegenheiten spätestens innerhalb von 48 (24?) Stunden bzw. am (über-)nächsten Werktag einen Termin bei einem Hausarzt (nicht notwendigerweise dem Hausarzt seiner Wahl) bekommt. Für einen Standard-Termin stehen grundsätzlich 10 Minuten zur Verfügung.
14. Echte Notfälle werden am selben Tag oder falls notwendig auch sofort gesehen. Allerdings werden Notfälle „triagiert“. Falls es sich dabei herausstellt, dass es doch nicht so dringend ist, wird die Behandlung ggf. auf einen geplanten Termin innerhalb von 48 Stunden verschoben.
15. Hausbesuche werden aufgrund von medizinischer Notwendigkeit durchgeführt und ebenfalls grundsätzlich triagiert.
16. Grundsätzlich gilt: Der Arzt stellt die Indikation für eine Leistung, nicht der Patient. Wenn ein Patient damit nicht einverstanden ist, hat er die Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen.
17. Eine staatliche Institution (z.B. das IQuiG) legt Behandlungsleitlinien fest und eine „unabhängige“ gemeinsame Kommission aus Vertretern von Politik, „Einheitskrankenkasse“ und Mitarbeitern dieses Instituts entscheidet verbindlich, welche Leistungen vom System erbracht und finanziert werden
18. Fragwürdige Behandlungsmethoden (Diclo-Dexa-Spritzen, gewisse komplementärmedizinische Verfahren, teure neue Medikamente ohne zusätzlichen Wirkungsnachweis) gehören nicht dazu
19. Jeder Einwohner hat das Recht und die Gelegenheit, eine private Zusatzversicherung abzuschließen und sich damit Zusatzleistungen nach Wunsch einzukaufen (z.B. komplementärmedizinische Behandlung, Einzelzimmer, Chefarztbehandlung, teure Medikamente die nicht im Leistungskatalog enthalten sind…)
20. Für Ärzte, welche private Zusatzleistungen anbieten und gleichzeitig im staatlichen System arbeiten müssen strenge und klare Regeln geschaffen werden.
Es ist kein Zufall, dass die obigen Spielregeln stark an den britischen National Health Service erinnern, allerdings sind sie keine hundertprozentige Übertragung.
Mir ist auch klar, dass so ein System in Deutschland in absehbarer Zeit politisch nicht durchsetzbar ist.

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